Mehr Daten, mehr Erfolg: Moderne Genanalytik zur Diagnose seltener Erkrankungen

Juni 2022, Autor: Dr. Gerhard Pappert

Yann Bastard

PCR ist viel mehr als nur ein COVID-Test
Seit der Corona-Pandemie ist der Begriff „PCR“, der zuvor überwiegend nur Medizinern und Naturwissenschaftlern bekannt war, einer breiten Öffentlichkeit vertraut. PCR steht für „Polymerase-Kettenreaktion“ und bezeichnet eine Methode, mit der Wissenschaftler kleine Fragmente der Erbinformation vervielfältigen („sequenzieren“) und nachweisen können. Mittels PCR lassen sich unter anderem Verwandtschaftsverhältnisse und eine Vielzahl von Erbkrankheiten nachweisen. Insbesondere zur frühzeitigen Diagnose seltener Erkrankungen sind PCR-basierte Methoden von unschätzbarem Wert.

Vereinfacht beschrieben wird mit PCR die Erbinformation, die für jeden Organismus einzigartig ist, vervielfältigt und anschließen mit Datenbanken abgeglichen. So lässt sich zum Beispiel nachweisen, wenn es zu Übereinstimmungen mit Mutationen kommt, die für eine seltene Krankheit charakteristisch sind – oder im Fall des Covid-Tests die Anwesenheit von Virus-Erbgut bestimmen.

Die Grenzen der PCR

Ein Nachteil der PCR ist jedoch, dass man bereits einen Verdacht haben muss, welche Krankheit vorliegen könnte. Besteht zum Beispiel der Verdacht auf eine häufige Erbkrankheit wie Mukoviszidose, kann ein PCR-Test Klarheit darüber schaffen, ob die Erbkrankheit vorliegt oder nicht. Fällt der Test negativ aus und gibt es keine anderen vermuteten Krankheiten, auf die getestet werden kann, ist keine Diagnose möglich. Viele Menschen mit seltenen Krankheiten teilen dieses Schicksal und leben in Ungewissheit über die Ursachen ihrer Erkrankungen.
Der Nachweis von Krankheitserregern mittels PCR funktioniert auf ähnliche Weise. Der PCR-Test sagt zum Beispiel nur etwas darüber aus, ob SARS-CoV-2 vorhanden ist oder nicht. Wenn Sie entsprechende Symptome haben, der PCR-Test aber negativ ausfällt, kann eine Reihe anderer Erreger vorhanden sein, über die Sie aber keine Informationen haben. Die Diagnose insbesondere von genetischen Krankheiten wurde jedoch durch eine entscheidende Entwicklung der letzten Jahrzehnte entscheidend verbessert: die genetischen Sequenzierungsmethoden.

Aufwändigere Sequenzierungen werden konkurrenzfähig

1990 wurde das Humangenomprojekt ins Leben gerufen, das bis 2003 dauern sollte, um das gesamte genetische Material eines Menschen zu sequenzieren und zu digitalisieren. Das Projekt war äußerst komplex und kostete 2,7 Milliarden Dollar. Heute, nur etwa 20 Jahre später, ist es möglich, eine vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms für nur etwa 1.000 bis 2.000 Euro durchführen zu lassen. [1] Experten gehen davon aus, dass die Kosten weiter sinken werden. Neben der Ganzgenomsequenzierung gibt es auch kostengünstigeren Alternativen, die nicht die gesamte Erbinformation untersuchen, sondern sich auf wichtige Abschnitte konzentrieren. Alle drei Methoden werden in verschiedenen Ländern bereits in der klinischen Routine eingesetzt.
Der Vorteil dieser Methoden ist, dass sie bei unspezifischen Symptomen eingesetzt werden können, die nicht direkt auf eine bestimmte genetische Erkrankung schließen lassen. Zahlreiche aktuelle Studien belegen die große Nützlichkeit der neuen Methoden bei der Erkennung einer Vielzahl von Mutationsmustern.

A magnifying glass focussing on a section of a DNA strand.

Mark Evans

Big Data spielt entscheidende Rolle

Bei der Sequenzierung fallen große Mengen an Daten an, die mit bekannten Gensequenzen verglichen werden. Eine Herausforderung dabei ist, zwischen wirklich relevanten und harmlosen Veränderungen im Genom zu unterscheiden. Hier kommen Techniken aus Big Data und komplexe Vorhersagemethoden zum Einsatz. Je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto besser wird die Vorhersagekraft der Methoden, was langfristig dafür sorgt, dass sie immer nützlicher werden. Darüber hinaus erzeugt die Ganzgenomsequenzierung weitere Daten, die für die allgemeine Gesundheitsversorgung relevant sein können. Ein Nebenbefund kann zum Beispiel sein, dass man eine Mutation trägt, die mit hohen Cholesterinwerten im Alter in Verbindung gebracht wird. Ärzte und Wissenschaftler können auf der Grundlage dieser Ergebnisse Maßnahmen ergreifen.

Wann kommt die Sequenzierung für alle?
Der größte Einwand, der derzeit gegen die Vollsequenzierung als Standardmethode vorgebracht werden könnte, sind die im Vergleich zu anderen Methoden weiterhin relativ hohen Kosten. Aus rein gesundheitsökonomischer Sicht muss daher im Einzelfall abgewogen werden, ob und welche der neuen Sequenzierungsmethoden eingesetzt werden sollen und wann die Kosten gerechtfertigt sind. Sollte sich der Trend der Kostenreduktion fortsetzen, ist es jedoch durchaus denkbar, dass die Sequenzierung jedes Kindes nach der Geburt von den Krankenkassen übernommen wird, um Risikofaktoren frühzeitig zu erkennen.

[1] https://www.aerzteblatt.de/archiv/208395/Genomsequenzierung-Deutschland-steht-im-Abseits

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